Michèle Minelli, Aufbau Verlag ISBN: 978-3-351-03595-2, CHF 35.50 |
Erschreckend erschien mir, wie die gutmütige, verträumte Frieda Keller in der Kindheit unbefangen war, was sie aber für eine (damals für Mädchen normale) Erziehung genoss: Mädchen, und später Frauen, hatten brav zu sein, dem Vater zu gehorchen, keine eigene Meinung zu haben, ja niemanden verärgern, vor allem nicht den Vater und auch nicht die Brüder. Die landesübliche Bezeichnung für das weibliche Wesen war damals meist "die Weibsbilder". Sündig waren sie sowieso, da konnte sich auch eine Frieda Keller noch so anständig verhalten, da reichte ein Übergriff von Seiten des Arbeitgebers und schon sah sich die Gemeinschaft in ihrem Bild bestätigt, dass man mit den Weibern nur Probleme hat... Tja, deshalb getraute sich die "gut erzogene" Frieda auch nicht, zu Hause ihr Leid zu klagen, da hätte der Vater sich geärgert, das Mädchen war wahrscheinlich sowieso schuld, und die Mutter hätte auch nicht richtig zu helfen gewusst, die war genauso erzogen worden - und wie man nebenbei erfährt, hatte auch diese anno 1866 "etwas auf dem Gewissen". Wenn ich mir vorstelle, wie viele Kinder damals getötet wurden, offiziell wusste man einige Fälle, aber die meisten blieben im Dunkeln, wurden in den Familien schandhaft verschwiegen...
Frieda hätte zwar eine Vaterschaftsklage machen können, aber das Gesetz kannte derart viele Ausnahmen, dass dies praktisch aussichtslos war. Z. B. konnte man keinen verheirateten Mann anzeigen, ausser man könnte beweisen, dass man davon nichts gewusst habe... usw. usw.
Auf jeden Fall empfehle ich jedem, dieses Buch zu lesen, als hochspannenden Roman, als Zeitdokument, als Verständnis für unsere Vergangenheit und Wurzeln - und unsere gute neue Zeit! Es gab auch damals sehr viele "gute" Leute, nur brauchten die Veränderungen in der Gesellschaft, die Gesetzesänderungen usw. sehr viel Zeit und deshalb dauerte es noch lange, bis diese Missstände endlich ein Ende nahmen.
Als Abschluss möchte ich noch erwähnen, falls jemand Angst vor brutalen Geschichten hat: Es kommen keine Folterszenen vor, es sind auch Zitate aus Originaldokumenten drin, und dies nimmt dem Buch eine gewisse Schärfe, die ich (deshalb sag ichs euch) befürchtet hatte und die mich zuerst von der Lektüre abgehalten hatte!
Christa Pellicciotta
PS Natürlich erhältlich in der Buchhandlung Wortreich in Glarus